Mercedes schreibt einen Brief
Wie war es, als Kind in dieser Zeit zu leben?
Mercedes Wild war 7 Jahre alt, als die Berliner Luftbrücke begann. Sie erzählt den Kinderreportern des Bösen Wolfes, wie es für sie damals war und wie eine lebenslange Freundschaft entstand.
Wir haben die Zeit als normal erlebt. Ich bin in diesem Haus aufgewachsen, es gab auch Flüchtlinge. Ich bin 1947 eingeschult worden und manchmal war die Schulspeise meine einzige Mahlzeit. Wir hatten wenig Wasser. Draußen gab es Trümmerberge. Der Tod war nah, wir hatten die Bomben im Krieg miterlebt. Das Geräusch der Flugzeuge am Anfang der Luftbrücke war unerträglich, weil es mich an die Zeit erinnerte, als die Bomben abgeworfen wurden. Ich hatte aber eine ganz nette Lehrerin, die versucht hat, uns die Situation politisch zu erklären. Dass wir durch die Sowjetunion eingeschlossen waren. Deshalb hatten wir in den westlichen Sektoren weniger zu essen als vorher. Meine Großmutter erklärt mir auch, dass Lebensmittel eingeflogen wurden.
Dann ist nicht weit von hier ein Flieger abgestürzt. Es war kurz nach Beginn der Luftbrücke, Ende Juli 1948. Der Pilot und der Funker sind gestorben, wir waren alle sehr geschockt und hatten Angst, dass die Alliierten die Versorgungsflüge nach Berlin einstellen.
Ein kleines Wunder
Dann geschah ein kleines Wunder. Auf dem Weg zur Schule kamen kleine Fallschirme vom Himmel runter, und man durfte auch während des Unterrichts, wenn sich Fallschirme auf dem Schulhof angesammelt hatten, rausgehen. Wenn eine Maschine mit Süßigkeiten kam, wackelte sie mit den Flügeln. Das war das Zeichen. Ich war aber immer zu langsam und bekam nie etwas ab.
So lief ich eines Tages weinend nach Hause und da sagte meine Großmutter: „Flenn‘ nicht, tu etwas“.
Also schrieb ich heimlich einen Brief und habe den in den Postkasten alleine rein gesteckt, ohne Briefmarke! „An meinen Schokoladenonkel, Flughafen Tempelhof.“
Ich habe ihm geschrieben, du fliegst jeden Tag über mein Haus, so erkennst du es, wir haben weiße Hühner, sie legen keine Eier mehr, weil sie Angst vor Flugzeugen haben. Aber wenn Fallschirme kommen, ist die Welt in Ordnung.
Es kam danach kein Fallschirm, jedoch eines Tages ein Brief adressiert an Fräulein Mercedes Simon. Und hinten stand Leutnant Gail Halverson, Tempelhof SW 61. Er war damals Leutnant, ich hatte ein Bild von ihm in der Zeitung gesehen.
In dem Brief waren ein Kaugummi und ein Lutscher (ganz flach). Kaugummi kannte ich nicht - den Geruch auch nicht. Das war Pfefferminz. Den Geruch mochte ich nicht. Wir hatten damals Zahnputzpulver ohne Geschmack. Diesen Kaugummi habe ich auf dem Kinderschwarzmarkt* gegen eine Glaskugel eingetauscht, eine Glasmurmel, die ich immer dabei habe.
Den Lutscher habe ich mir bis Weihnachten aufgehoben. Das Wichtigste war der ganz lieb geschriebene Brief. Ich habe zu meiner Mutter gesagt, dass ich diesen Mann, diesen Piloten also meinen Schokoladenonkel sehen will, der mir schreibt.
*Wir tauschten Stifte gegen Radiergummi, Kaugummi gegen Murmel. Alles, was wir in den Ruinen gefunden haben und nicht behalten wollten, haben wir getauscht.
Ende der Geschichte ? Nein, der Beginn einer langen Freundschaft
Erst 1972 haben wir uns persönlich kennengelernt und diese Freundschaft besteht noch heute, sogar mit den gesamten Familien beiderseits. Damals war Gail Halvorsen als Flughafenkommandant von Tempelhof nach Berlin zurückgekehrt. Als Gail zum ersten Mal mit seiner Familie zu uns kam, kochte ich zufällig Hühnerfrikassee. Da fragte Gail: Ist es aus den Hühnern von damals? Von da an war das Eis zwischen uns gebrochen.
Interview: Dagmara, Emmanuelle, Gaïa, Natalia und Rosalie
Zeichnungen: Alice
Text, Zeichnungen © Grand méchant loup | Böser Wolf
Fotos: Kinder und Rosinenbomber © Landesarchiv Berlin
Mädchen © Mercedes Wild
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