Freundschaften mit Alliierten
„Es war sehr familiär“
Barbara und Jean-Claude erzählen über eine deutsch-französische Freundschaft in Berlin. Damals, 1963, erreichte der Kalte Krieg einen Höhepunkt. Als französischer Alliierter leistete er seinen Wehrdienst in Berlin. Sie – eine Berlinerin – ging auf das Französische Gymnasium...
Wie kamen diese Freundschaften zustande?
Barbara: Es gab Aktionen zu Weihnachten: Berliner Familien luden alliierte Soldaten ein. Meine Brüder entschieden sich für Franzosen. Ich war 19 und ging damals, 1963, zum Französischen Gymnasium. Ich war die einzige in der Familie, die Französisch sprach. Ich meldete mich bei einem Offizier der Franzosen und fragte, was man den Soldaten schenken konnte. Er antwortete: Das schönste Geschenk wäre nicht nur eine Einladung zum Weihnachtsfest, sondern weitere Einladungen durch das ganze Jahr.
Und irgendwann klingelte es, ein kleiner Franzose mit Schnurrbart und zu großem Militärmantel stand vor der Tür. Loulou, 18 Jahre alt, aus Toulouse. Er spielte bei der Musikkapelle. Er kam dann öfter, wann immer er wollte, und fragte irgendwann, ob er einen Freund mitbringen dürfte. Dann kam Max, dann Michel, dann Jean-Claude. Alle Musiker. Sie kamen allein oder zu zweit, zu dritt, zu viert. Man wusste nie, wann sie kamen, es gab ja kein Telefon. Aber bei allen Festen waren sie dabei: Weihnachten, Silvester, Ostern, Geburtstagen…
Jean-Claude: Ein Freund von mir, Loulou genannt, bot mir an, zu der Familie, die ihn empfing, mitzukommen. Sie gingen schon zu zweit hin, er versicherte mir jedoch, es wäre kein Problem. So ging ich an einem Sonntag zu dieser Familie. Sie bestand aus der Mutter, der Tochter Barbara (um die 19), ihren Söhnen Ekke (um die 23) und Michaël (um die 16). Und auch Onkel Oskar. Wir gingen zu ihnen zu dritt, zu viert. Wir mussten nicht vorher Bescheid sagen.
Wie haben sie sich verständigt?
Barbara: Ich übersetzte, Jean-Claude sprach ein wenig Deutsch und alle haben mit der Zeit automatisch etwas gelernt. Mit meiner Mutter ging die Kommunikation auch mit Händen und Blicken. Und weil sie uns „Mutti“ sagen hörten, sagten sie auch „Mutti“ zu ihr. Sie wurden Brüder für uns und Kinder für sie. Es war sehr familiär.
Jean-Claude: Onkel Oskar redete gern mit mir, natürlich auf Deutsch! Ich verstand nicht alles, hörte ihm jedoch zu. Er mochte das, und so erzählte er mir immer kompliziertere Geschichten. Barbara kam mir oft zu Hilfe. Sie sprach perfekt Französisch.
Bliebt ihr immer zu Hause?
Barbara: Manchmal bin ich mit den vier rausgegangen. Sie waren in Uniform, und ich als deutsches Mädchen wurde manchmal schon schräg angeschaut, ich habe die Blicke wahrgenommen. Manchmal haben sie ihre Uniformen gegen Zivilkleidungen, die sie bei uns gelassen hatten, getauscht. Man fiel dann weniger auf.
Meistens blieben wir jedoch zu Hause, wir haben Fete gemacht, Platten aufgelegt, da kamen noch die Freudinnen meiner Brüder hinzu.
Können Sie etwas über Mutti erzählen?
Barbara: Die halbe Familie ist in Dresden bei Luftangriffen umgekommen, Vater an der Ostfront verschollen. Oma, Mutter und die drei Kinder kamen 1949 mit nichts nach Berlin. Nach dem Krieg standen beide den Alliierten schnell positiv gegenüber. Sie hatten auch unter Hitler gelitten. Sie waren schon weiter im Kopf, so modern und offen.
Meine Mutter hat hart und viel gearbeitet, hat mit allen geteilt. Wir hatten nicht viel Geld, aber für sie war es normal Fremde einzuladen. Meine Mutter war immer ein großes Vorbild.
Jean-Claude: Die Mutter begrüßte uns immer mit offenen Armen und einem herzlichen Lachen. Sie ließ sich „Mutti“ nennen. Sie hatte eine außergewöhnliche Offenheit, sie empfing uns als ihre Kinder. Am Tisch waren wir eine schöne Familie. Zu Weihnachten 1963 hatte jeder sein kleines Geschenk!
Wie ging die Geschichte weiter?
Barbara: Ja, was eine kleine Geste so ausmacht. Später haben alle vier meine Mutter und meinen kleinen Bruder zu einer Reise nach Frankreich eingeladen. Sie besuchten sie alle vier.
Der Kontakt mit Jean-Claude ist immer geblieben. Als „Mutti“ starb, ist er ins Flugzeug gestiegen und zur Beerdigung gekommen.
Jean-Claude: Wir hatten mit Mutti eine sehr enge Beziehung. Sie besuchte uns schon im Sommer 1964 in Frankreich. 1979 sind wir mit Wohnwagen – wir, das waren meine Frau, meine beiden Kinder und meine Schwiegereltern – zu „Mutti“ und zu Barbara und ihrer Familie gefahren.
Viel später, 1997, während einer Gruppenreise im Rahmen einer Städtepartnerschaft fuhren wir über Berlin und meine Frau und ich entschieden uns, bei „Mutti“ zu übernachten. Es war unvorstellbar, in Berlin zu sein, ohne „Mutti“ zu sehen.
Als wir am nächsten Tag in die Oper gingen, bot man mir an, „Mutti“ einzuladen. Es war ein Konzert jüdischer Musik, es war sehr emotional für „Mutti“ und mich, an einem Konzert teilzunehmen, das die Franzosen, die Deutschen und die Juden vereinte.
Wir haben sie – auf Einladung von Barbara – zu ihrem 80. Geburtstag überrascht.
Als „Mutti“ vor einigen Jahren starb, war es mir wichtig an der Trauerfeier in Berlin teilnehmen. Heute bin ich immer noch sehr verbunden mit Barbara und Ekke, ihren Kindern. Barbara wurde wie eine Schwester. Wir rufen uns an und besuchen uns gegenseitig.
Und bei Ihnen Barbara?
Barbara: Ich war viel in Frankreich. Am Anfang habe ich manchmal eine komische Reserviertheit gespürt, eine Ablehnung. Bei manchen sollte ich nicht sagen, dass ich Deutsche bin. Es war schon schade. Es hat sich inzwischen aber sehr gebessert.
Aber Leute wie Jean-Claude haben sich immer für die deutsch-französische Freundschaft eingesetzt, seine Kinder haben auch Deutsch gelernt, haben Kontakte mit Deutschen. Er ist und bleibt ein enger Freund.
Interview mit Jean-Claude: Alina und David
Zeichnungen: Alina
Text, Zeichnungen © Grand méchant loup | Böser Wolf
Fotos © Barbara Cornec